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Die Zeit läuft

Einszweidrei, im Sauseschritt
Läuft die Zeit; wir laufen mit.

(Wilhelm Busch)

Vor Kurzem hatte ich einen wichtigen Arbeitstermin, zu dem ich unbedingt pünktlich sein musste. Kurz bevor wir das Haus verließen, bekam mein Sohn Nasenbluten. Es tropfte zielgenau auf meine sorgfältig ausgewählte Hose. Ich verließ fluchend den Flur auf dem Weg zum Kleiderschrank. In die frische Hose hüpfend hangelte ich nach Taschentüchern für die tropfende Nase. Und weil Multitasking niemals – wirklich niemals – funktioniert, brauchte das auch wieder mehrere Minuten, die mich fast in den Wahnsinn trieben. Nach einer gefühlten Ewigkeit brachen wir auf – mit einer Laune auf dem Tiefpunkt. So sieht die vielbeschworene Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Wirklichkeit aus. Vereinbar ist da gar nix. Zerrissen trifft es wohl eher. Mareice Kaiser schreibt dazu in ihrem Buch „Das Unwohlsein der modernen Mutter“: „Wie soll ich so arbeiten, dass ich meine Erwartungen an mich selbst erfülle, genügend Geld verdiene und gleichzeitig die Mutter bin, die ich sein möchte?“

Zeitnot ist uns allen bekannt. Und als wäre die Zeitnot an sich nicht schon schlimm genug, setzen wir dem Ganzen noch einen drauf und überhöhen den Zeitmangel moralisch. Wer gehetzt ist, ist anerkannt. Gehetztsein und volle Terminkalender sind zu einem merkwürdigen Statussymbol geworden. „Zeit ist Geld“, ist nach wie vor die Devise. Dabei kann man ohne Geld zwar irgendwie leben, aber ohne Zeit?

Eltern kleiner Kinder zum Beispiel verrichten in der Woche mehr als 60 Stunden bezahlte und unbezahlte Arbeit. Alleinerziehende sind davon nochmal stärker betroffen. Das ist aber nicht nur im Alltag, sondern im ganzen Erwerbsverlauf ein meist ungelöstes Problem. Wer sich um Kinder oder Angehörige kümmert, muss mit finanziellen Einbußen rechnen. Spätestens bei der Rente. Ich weiß, dass ich als Alleinerziehende mit meinen minimalistischen Karriereansprüchen geradewegs in die Altersarmut rutschen werde. Das kann ich auch nur deshalb so erfolgreich ausblenden, weil ich überhaupt keine Ressourcen habe, mich um das Thema auch noch zu kümmern.

Was macht die stetige Zeitnot mit uns als Gesellschaft? Wir rasen immer weiter, versuchen alles, so gut es geht, unter einen Hut zu packen. Die Mittagspause? In der Zeit geh ich lieber schnell einkaufen. Ein Nachmittagsspaziergang in der Sonne? Lieber schnell die Wohnung saubermachen. Beruflich runterfahren um sich selbst zu fragen, was man eigentlich mal wollte vom Leben? Utopisch.

Chronische Überforderung macht krank. Dass ich an einem chronischen Nervenzusammenbruch litt, war mir lange nicht klar und ich hatte ja auch keine Zeit, mich darum zu kümmern. Die Weltgesundheitsorganisation stuft Stress als eine der größten Gesundheitsgefahren des Jahrhunderts ein. Die zunehmend hohen Anforderungen im Alltag versetzen den Körper in eine Art Daueralarm und zehren an unseren körperlichen Reserven. Das schlägt sich auch auf das Immunsystem nieder.

Gerade die 40-Stunden-Woche, egal ob als Eltern oder nicht, verlangt besonders viel ab. Kein Tageslicht in der Zeit von Oktober bis Februar, und praktisch unmöglich, Geschäfte innerhalb der Öffnungszeiten zu besuchen oder Arzttermine wahrzunehmen. Soviel zu den Angestellten. Selbständige haben noch nicht mal eine gesetzlich geregelte Lösung für Mutterschutz, laut Deutschlandfunk Kultur. What the fuck – Wie kann es sein, dass 70 Jahre nach Einführung des Mutterschutzes erst jetzt im Bundesfamilienministerium darüber nachgedacht wird, diesen auch für Selbständige einzuführen?! Das sind nur wenige Beispiele für Zeit-Ungerechtigkeiten. Finden ließen sich davon noch viele.

Zeitforscher fordern von der Politik, sich mehr dem Thema „Zeit“ zu widmen und nicht nur auf die finanzielle Daseinsvorsorge zu schauen. Es gibt Konzepte, eine Art lebenslanges Zeitkonto einzurichten. Darin ist ein Zeitvolumen für Sorgearbeit vorgesehen, ebenso wie für berufliche Weiterbildung und eine persönliche Auszeit, die sozial und finanziell abgesichert ist. Das würde die Zeitungerechtigkeit spürbar verringern. Diese Denkansätze finden allerdings nur langsam ins öffentliche Bewusstsein. Bis das politische Realität werden kann, wird wohl noch viel … joah … Zeit vergehen.

Bis dahin sollten wir uns – sofern das möglich ist – immer mal wieder die Frage stellen: „Muss das echt sein?“. Ist der volle Terminkalender wirklich nötig, oder können wir nicht die eine oder andere Verpflichtung streichen? Wenn uns das gelingt, bleibt plötzlich Raum für Spontanes. Mein Sohn hat ein tolles Alter um die philosophischsten und verrücktesten Fragen zu stellen. „Wer kontrolliert eigentlich den Körper – das Gehirn oder der Mensch?“, „Besteht die Seele auch aus Sternenstaub?“, „Wie entsteht ein schwarzes Loch?“. Ich liebe meinen Sohn für diese Art von Fragen. Und freue mich über die Zeit, die wir uns dafür nehmen können, über diese Fragen zu philosophieren.

Funfact schwarzes Loch: Wusstet ihr, dass die Zeit in schwarzen Löchern stillsteht? Ich würde mir manchmal gerne wünschen, mich in ein schwarzes Loch zu zaubern. Doch leider finde ich die Vorstellung so gruselig, durch die Raum-Zeit komplett zerrissen und zermalmt zu werden, dass ich es mir eben doch nicht wünsche. Zerrissen bin ich ja schon im Alltag. Siehe Vereinbarkeit, ha ha.

Wenn also die Strukturen nicht dafür gemacht sind, uns Zeit zurückzugeben, müssen wir andere Wege finden. Es gibt viele gemeinschaftliche Konzepte, die uns entlasten können. Gemeinschaftliches Wohnen zum Beispiel. Meine Hausgemeinschaft gibt mir viel, nicht nur Zeit, sondern auch das Gefühl, nicht allein auf der Welt zu sein.

Kürzlich habe ich über drei Gemeinschaftsgärten in der Region berichtet. Die Engagierten sind allesamt begeistert von dem Konzept: es spart nicht nur Zeit, einen Acker gemeinsam zu bewirtschaften, es macht auch viel mehr Spaß. Es könnten noch viel mehr solcher Gemeinschaftskonzepte entstehen. Menschen könnten sich ihre Arbeitsstelle mit jemand anderem teilen. Werkzeuge und Maschinen können geteilt werden, dann muss nicht alles selbst beschafft werden, was auch wieder Zeit und Geld kostet. Mitfahrgelegenheiten können zusammengelegt werden, insbesondere für regelmäßige Fahrten. Kinderbetreuungen werden unter Eltern während schulfreier Tage organisiert.

Und was eben auch wichtig ist, damit langfristig ein Umdenken in der Gesellschaft stattfindet: wir müssen darüber reden. Gehetztsein ist nicht cool, es ist kein Statussymbol. Zeitnot macht krank und tut uns nicht gut. Wir sollten die Zeitungerechtigkeit viel öfter in die Welt posaunen und uns lauthals darüber beschweren. Auch wenn wir eigentlich keine Kraft mehr dazu haben. Wir sollten Faulheit viel öfter feiern und stolz sein, wenn wir es geschafft haben, uns mal wieder richtig zu langweilen. Und wenn wir dabei netflixstreamend und pralinenfutternd auf der Couch liegen, sollten wir uns das gönnen und uns nicht schlecht fühlen. Also her mit dir, schöne Langeweile. Stay away, Zeitnot.

Published inAllgemein

4 Comments

  1. Erika Alsbach Erika Alsbach

    Liebe Nadja, was für ein toller Blog.
    Das Thema ist brandaktuell und wir reden selten darüber. Warum? Weil die meisten keine Zeit haben.
    „Die Entdeckung der Faulheit“, so hieß ein Buch, daß ich vor fast 20 Jahren las. Auch eine sehr interessante historische Betrachtung des Themas.
    Heute, mit 64, habe ich viel Zeit, und unter anderen Umständen könnte ich etwas davon abgeben, zum Beispiel beim Kinder hüten.
    Vielleicht gibt es noch mehr Ideen, einige hast du schon angesprochen.

  2. Marta Marta

    Das macht mich sehr nachdenklich, liebe Nadja, wie ich als privilegiert zeitreiche wohl etwas von meiner Zeit jemanden schenken könnte, der immer hinter ihr her rennen muss. Ich werde den Gedanken in mir reifen lassen. Vielen Dank für den wie immer genial geschriebenen Text. Sehr lesens und nachdenkenswert!

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